Das Langzeitgedächtnis – 3. Und letzter Teil

Nach der bestandenen Zwischenprüfung erhielten wir Lehrlinge nun auch einen Teil der Uniform: einen sehr dunkelblauen, fast schwarzen Hut (noch ohne gelbes Band), eine hellblaue Bürojacke und 2 hellblaue Hemden mit einer dunkelblauen, bereits gebundenen Krawatte, die mit einer Steckvorrichtung versehen war, damit man sie am obersten Knopfloch einfach „befestigen“ konnte. 

Ich wurde als „Sommerverstärkung“ nach Flüelen am Urnersee versetzt. Die Zeit in Flüelen gefiel mir richtig gut. Endlich mal in die Innerschweiz, damals auch noch Urschweiz genannt. In der Urschweiz war ich zwar schon einmal, auf einer Schulreise auf das Rütli, wenn ich nicht falsch liege. 

Die Besatzung, bestehend aus dem Bahnhofvorstand Herrn Faust (ein Berner), seinem Stellvertreter, einem Einheimischen (den Nachname habe ich vergessen – sein Vorname war Remigius), den beiden Stationsbeamten R.F. und P.M. (die leben wahrscheinlich noch, deshalb keine Namen) waren da noch ein Vorarbeiter und zwei Rangierarbeiter. Die ganz grosse Überraschung bestand aber darin, dass ein Bärner Meitschi als kaufmännische Angestellte uns im Büro unterstützte. Ich glaube sie hiess Heidi und sprach gut Französisch, weil sie ihre Lehre in Genf gemacht hatte. Das war auch für Flüelen etwas neues, durchaus positiv. 

Weil ich schon ein „vorgeprüfter“ Stift war, durfte ich auch schon fast selbständig gewisse Tätigkeiten ausüben. Also diese „Besatzung“ erwartete von mir, dass ich schon selbständig in der Einnehmerei Schalterdienst versehen konnte (Billettverkauf, Kunden beraten). R.F. und P.M. versuchten zusätzlich, mich mit speziellen Tests zu prüfen.

R.F. verlangte, dass ich das Wagenbuch addieren solle (er meinte damit die Wagennummern addieren, nicht etwa die Anzahl Güterwagen die an jedem beliebigen Tag auf dem Bahnhofsgelände vorhanden waren). Verglichen mit Zäziwil hatte es doch mehr Industrie. Darauf bin ich allerdings nicht hereingefallen (das Addieren) – über diesen fiesen Test wurde ich in der Schule in Luzern schon aufgeklärt.

P.M. versuchte es mit ein bisschen handwerklicher Arbeit – ein Meter Schienenschleifen wurde mir befohlen. Erfolglos.

R.F. hatte noch einen Nebenverdienst. Er war Tennislehrer in Luzern (sein Vorname war aber nicht Rotscher). Ich habe keine Ahnung ob er dazu eine Bewilligung der SBB hatte. Geheimnis machte er aber aus seiner Nebentätigkeit keine – eher das Gegenteil war der Fall. Aber sonst war er eigentlich ganz in Ordnung.

Die Zeit in Flüelen habe ich richtig genossen. Da war etwas los. Sommer war Touristensaison. In Flüelen steigt man vom Schiff auf den Zug um. Oder auf das Postauto über den Klausenpass. Es kamen auch viele deutsche Touristen mit der Bahn an. Manchmal war das auch ein Irrtum. Die internationalen Züge waren lang und die Perrons in Brunnen SZ zu kurz. Es gab Leute im letzten Wagen die glaubten, der Zug hätte auf der Strecke angehalten, weil kein Bahnsteig sichtbar war. Da fuhren sie halt bis nach Flüelen weiter und beschwerten sich dann natürlich.

Da habe ich auch mitbekommen, dass es nicht nur bei den SBB marketingmässig ausgebildete Leute gab, sondern auch bei der SGV. Zusammen mit der SBB gab es Rundfahrtbillette. Mit dem Schiff nach Flüelen und per Bahn zurück nach Luzern. Ein gut genütztes Angebot, es gab damals ja noch mehrere Dampfschiffe. Bei der SGV in Luzern fragte das Schalterpersonal jeweils „wollen Sie lieber oben sitzen oder unten?“. Die meisten Kinder wollten natürlich oben sitzen, speziell bei wunderbarem Wetter. Das war allerdings 1. Klasse, was die Leute zu spät bemerkten.

In Flüelen angekommen kamen doch einige an den SBB-Schalter und verlangten eine Reduktion, weil sie nur 2. Klasse zurückfahren wollten. Gab es aber nicht.

Einem geografischen Irrtum, nicht etwa einem gelernten Marketingtrick ist es zu verdanken, dass ich eine Familie nach Rueras schicken wollte. Gut, vielleicht waren es mangelnde Sprachkenntnisse meinerseits oder Urner sprachen damals französischsprachige Ortsnamen wie gedruckt (im wahrsten Sinne des Wortes) aus. Sie wollten nicht nach Rueras. Als ich sie fragten, ob sie via Göschenen – Andermatt oder via Zürich – Chur reisen wollten, bestanden sie darauf, via Luzern – Bern – Fribourg zu fahren. Sie wollten nach Rueyres-Treyfayes. Ok, mein kleiner faux-pas. Und wer den Schaden hat muss sich um den Spott nicht sorgen. Das bewiesen alle Anwesenden.

Ich bemerkte auch, dass häufig deutsche Feriengäste, die in Flüelen ihren Urlaub verbrachten, per Bahn nach Airolo reisten. Airolo? Da gibt es ja ausser Merlot und Grappa nichts. Ausser viele Wanderrouten, aber die Herren und Damen Touristen waren jeweils nicht so bekleidet, wie man das für Wanderungen in den Bergen sein sollte.

Des Rätsels Lösung liess nicht lange auf sich warten. Heidi, das Bärner Meitschi, fragte einfach so einen Feriengast. Airolo war ihm schnurz. Er wollte nur einmal durch den Gotthardtunnel fahren! Ab dann verkauften wir nur noch Billette Flüelen-Bellinzona retour. Geschäftsinteresse halt, gelernt ist gelernt. 

Herr Faust, der Boss, unterrichtete mich über den Fahrdienst. Weichen stellen, Meldungen an die Zugsüberwachung geben. Die ZÜ gab es damals erst für die Gotthardstrecke von Arth-Goldau bis Biasca, ich glaube sie war in Luzern beheimatet und funktionierte per Telefon, das an eine direkte Leitung angeschlossen war. Aufgabe der ZÜ war, Verspätungen zu vermeiden. Es verkehrten nicht nur lange internationale Schnellzüge mit direkten Wagen mindestens ab Basel bis in den Süden Italiens. Auch lange und schwere Güterzüge bei denen in Erstfeld jeweils eine Lokomotive zusätzlich angehängt oder „vorgespannt“ wurde, damit die volle Anhängelast das Reusstal hinauf und die Leventina hinunter transportiert werden konnte.

An heissen Tagen kam es vor, dass Schwärme von Insekten durch das Reusstal herunter flogen, fast wie Heuschrecken wie man sie aus Berichten über Afrika kannte. Herr Faust hat mich dann aufgeklärt. Meine Frage „was sind denn das für Viecher?“ beantwortete er lakonisch mit „kennst du das Lied nicht?“ Es waren tausende Tabanidae, darunter sicher auch ein paar Tabanus sudeticus. Das Lied kannte ich zwar, aber ich wusste nicht, dass es wirklich so war. 

Einmal durfte ich auch Züge abfertigen. Dazu erhielt ich einen roten Filzüberzug für meinen Uniformhut, damit das Zugspersonal wusste, wer da das Sagen hatte. Mit Kelle, Pfeife und Hut ausgerüstet waltete ich meines Amtes. Unter Aufsicht von Herrn Faust natürlich. Da Sonntag war und ich noch keine Uniform hatte arbeitete ich in meinem Konf-Anzug, der passte mir damals noch. Bei einem Schnellzug aus dem Tessin, der auch in Flüelen hielt, hörte ich plötzlich meinen Namen rufen. „Lue da, Sommer Rüedu“ schrie Beck Resu, Mitglied des TV Oberdiessbach, zu einem Fenster hinaus. Der gesamte TVO war offenbar im Tessin und kehrte jetzt zurück. Und hat mich natürlich begrüsst. Dabei hatte mich Beck Resu an einem VU-Turnen k.o. geschlagen - er erschrak noch mehr als ich, ich lag ja am Boden. Herr Faust hat sich fast noch mehr gefreut als ich. An der Begrüssung natürlich.

An schönen Sonntagen präsentierten sich manchmal in der sonntäglichen Tracht Bauern und Bäuerinnen aus dem Schächental auf dem Perron. Sie spekulierten darauf, dass sie von Touristen fotografiert werden – mit dem Spruch „das koschtet dann fünf Franken“ waren sie üblicherweise erfolgreich. 

Bei der PTT arbeiteten auch Lehrlinge. Zusammen mit diesen und 2 jungen PTT-Beamten verpflegte ich mich  mittags und manchmal abends im Bürgerheim Flüelen. Es hatte zwar einige Restaurants und Hotels in Flüelen. Die wollten aber keine Pensionäre, die gaben zu wenig her. Dafür hat man ja Touristen. SBB-Stifte hatten nicht einmal Zutritt. (Ich bin 2018 in Flüelen gewesen – die Hotels gab es nicht mehr, hahaha!). 

Das Bürgerheim war kein Restaurant. Ursprünglich wurde es „Armenhaus“ genannt. Die Bürgergemeinde war dafür zuständig, geführt wurde es von Ingenbohl-Schwestern. Uns war das egal. Es wurde gegessen, was auf den Tisch kam, es war essbar und günstig. Zum Trinken gab es Wasser oder Süssmost. Die Überraschung kam eines Tages in Form der sich verlegen annähernden Mutter Oberin. Das Bürgerheim habe finanzielle Probleme und sie müsse uns jetzt leider auch das Trinken verrechnen, sagte sie. Wasser sei weiterhin gratis, aber für den Süssmost müssten wir jetzt ab sofort zwanzig Rappen pro Glas bezahlen. Das waren noch Zeiten! 

Ein PTT-Stift war auch ein Berner, von Wichtrach. Ein Leichtathlet, Spezialität 80 Meter Sprint. Das erzählte er häufig. Er beklagte sich über die fehlenden Trainingsmöglichkeiten in Flüelen. Für mich war das kein Problem. Während der Schulzeit bin ich OL gelaufen. Einmal, bei einer OL-Schulmeisterschaft des Amtes Konolfingen in Walkringen haben zwei Schulkameraden und ich als Mannschaft den Lauf gewonnen, mit riesigem Vorsprung. Coupiertes Gelände um Flüelen gab es genug. Ich bin dann auch jeden 2. Tag alleine gelaufen. Und das habe ich dem Mann aus Wichtrach auch gesagt. Was ich ihm nicht gesagt hatte war, dass da im Wald ein Wohnhaus stand, wo jeweils ein hübsches Mädchen seiner Mutter irgendetwas half. Und mir nachschaute. Also der Leichtathlet glaubte mir nicht dass ich trainiere und kam auch einmal mit. Es hat ihn ziemlich geschlaucht, weil ich nicht nach 80 Metern aufhörte. Ich war jeweils etwa 1 ½ Stunden unterwegs, über Stock und Stein. An dem Tag aber, als der Mann mitkam, wartete offensichtlich das Mädchen aus dem Wald auf mein Erscheinen. Sobald es uns sah, lief es uns voraus, einen Abhang hinauf und winkte uns zu. Ich winkte zurück. Mehr konnte ich nicht tun, denn dem Leichtathleten war es zu anstrengend, einen Abhang hinauf zu rennen. Diese Memme!

Etwas Gutes hatte es aber dennoch, dass wir einander näher kennen lernten. Er gab mir einen Tipp, wie man gratis mit dem Postauto über den Klausenpass und zurück reisen konnte. Sein Tipp war richtig. Ich verrate ihn natürlich nicht – obschon das jetzt wahrscheinlich nicht mehr funktionieren würde. Ich bin auch nicht „schwarz“ gefahren. Ganz legal, mit Bewilligung des Reiseveranstalters. Die Reise über den Klausenpass, egal in welcher Richtung, kann ich übrigens sehr empfehlen. 

Wir unternahmen dann noch weitere Aktivitäten gemeinsam. Einmal gingen wir an einen Tanzabend in Seedorf UR. Das war lustig. Nachdem wir schon zwei- oder drei Tänze mit diversen lokalen Schönen hinter uns hatten interessierte sich der Wichtracher (leider kann ich mich nicht mehr an den Namen erinnern) nur noch um eine ganz bestimmtes Fräulein. Das fiel nicht nur mir auf, sondern auch der lokalen Burschenschaft. Ein paar von ihnen kamen an unseren Tisch und forderten uns deutlich auf, ihre Frauen alleine zu lassen und zu verschwinden. Wir schauten zuerst uns an, dann die bestimmt auftretende Mannschaft. Da es den Anschein machte, dass sie nicht unbedingt für 80 Meter Sprint oder OL trainierten, eher wohl für Schwingen, Ringen oder sogar Sumo entschlossen wir uns, abzureisen. Dabei begingen wir eine Zechprellerei, wir nahmen an, die Rausschmeisser würden dann schon bezahlen. Dieses Delikt dürfte jetzt ohnehin verjährt sein. 

So, das war’s. Ich bin dann noch an anderen Orten gewesen, vor dem Abschluss der Lehre. Lustiges oder Interessantes fällt mir dazu aber nichts mehr ein.


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P.S. Nach Veröffentlichung dieses Beitrages hat einer meiner twitter-follower einen SBB-Film aus 1964 gefunden. Der beweist dass der in diesem Beitrag erwähnte Herr Faust tatsächlich in den 1960ern in Flüelen Bahnhofvorstand war und dort auch Lehrlinge ausbildete (ca. ab Minute 6). Und am Anfang des Filmes kann man sehr gut sehen, dass es früher in den Zügen Gepäckablagen gab, auf denen pro Sitzplatz eine grosser schweinslederner Koffer oder ein Militärtornister inkl. Kaputt, Feldflasche, Gamelle und Helm Platz hatte.

Der obige CC-Vermerk gilt für den Film ausdrücklich nicht. Den Film gibt es auf Youtube und die für diesen Film gültigen Urheberrechte sind dort angegeben.